Ian McGuire

Ian McGuires neuer Roman „Der Abstinent“ ist ein Pageturner par excellence – und fabelhaft geschrieben ist er obendrein.

Nordwasser“ machte den im Jahre 1964 in Hull geborenen McGuire auch hierzulande bekannt. Auch „Der Abstinent“ spielt im 19. Jahrhundert: Wir lernen James O’Connor kennen, der anno 1867 in Manchester als Polizist mit Spezialauftrag agiert. Er ist von Dublin hergewechselt, um die für die irische Unabhängigkeit kämpfenden „Fenians“ auszuspionieren. Und tatsächlich brodelt es in der Stadt, nachdem drei Kämpfer der Bewegung hingerichtet worden sind.

O´Connor befindet sich zwischen den Stühlen: Die englischen Kollegen schauen auf ihn herab, während seine irischen Landsleute den Neuankömmling kritisch beäugen. Zudem hat er den frühen Tod seiner Frau noch nicht überwunden. Und so hält sich der Abstinent fern vom Alkohol und ermittelt in den üblen Spelunken der düsteren Industriestadt.

Derweil trifft aus Amerika Stephen Doyle ein. Der Veteran aus dem amerikanischen Bürgerkrieg soll einen Auftrag für die Bewegung erledigen – und wird zu O´Connors erbittertem Widersacher…

Grimmig geht es zu in diesem Roman: Ian McGuire beschreibt eindrucksvoll das dreckige, gefährliche Manchester dieser Jahre. Harte Arbeit, Armut, Kriminalität und Alkoholismus bestimmen das Bild, die zunehmenden Auseinandersetzungen um die irische Unabhängigkeit spalten die Gesellschaft.

O´Connor und Doyle verkörpern die gegensätzlichen Pole in dieser Geschichte, dabei sind die beiden Gegenspieler durchaus nicht frei von Widersprüchen und Selbstzweifeln. Die in der Kindheit erlittenen Wunden und Beschädigungen verbinden sogar die sonst so unterschiedlichen Antipoden. Und so ist Ian McGuire mit „Der Abstinent“ auch ein großer Roman über die stete Macht des Bösen und seine Folgen gelungen.

McGuire, Ian: Der Abstinent (dtv) 23€

Chris Lloyd

Freitag, 14. Juni 1940: Die Deutschen marschieren in Paris ein, die Zeit der Besetzung beginnt. Inspecteur Éduard Giral schlägt sich derweil mit vier Toten herum, die am Gare d’Austerlitz gefunden wurden. Haben die neuen Herren der Stadt auch etwas mit diesem Fall zu tun?

Inspecteur Giral ist ein komplizierter Charakter. Er leidet seit seinem Einsatz im Ersten Weltkrieg an Alpträumen, hat auch deshalb seine Familie verlassen und lebt eigenbrötlerisch vor sich hin. Doch unter seiner zynischen Fassade versteckt sich ein mitfühlendes Herz. Das zeigt sich, als Giral dem rätselhaften Suizid eines Polen, der sich mit seinem kleinen Sohn aus der eigenen Wohnung gestürzt hat, nachspürt. Auch die vier Toten vom Bahnhof waren Polen. Gibt es da einen Zusammenhang? Als auch noch völlig überraschend Girals Sohn, der sich dem Widerstand gegen die Deutschen anschließen will, auftaucht, wird die Lage immer unübersichtlicher und gefährlicher…

Chris Lloyd, der nach vielen Jahren in Spanien und Frankreich nun in Wales lebt, kennt sich aus in der Historie. Mit großer Erzählfreude beschreibt er eine kuriose Situation des Übergangs: Die Pariser verlassen entweder ihre Stadt oder versuchen sich mit den Deutschen zu arrangieren. Derweil richten sich Letztere in der Stadt ein und leisten sich dabei interne Grabenkämpfe. Das Gegeneinander zwischen Wehrmacht und Gestapo etwa wird auch Giral zu spüren bekommen.

Bis zur letzten Zeile fiebert man mit und und erfreut sich an herrischen Deutschen, undurchsichtigen Franzosen und wagemutigen amerikanischen Journalistinnen, die hier aufs erfreulichste mit- und gegeneinander agieren. Und kein Geringerer als Adolf Hitler persönlich hat auch noch seinen Auftritt.

Chris Lloyd scheint an einer Serie um Inspecteur Giral zu arbeiten. Auf weitere Fälle freue ich mich schon heute.

Lloyd, Chris: Die Toten vom Gare d’Austerlitz (Suhrkamp) 15,95€