Johann Scheerer

Unheimlich nah“ von Johann Scheerer ist fraglos einer der Höhepunkte dieses Frühjahrs – sensibel und mitreißend erzählt er von den Folgen eines dramatischen Ereignisses, das einst die Nation in Atem hielt.

1996 wurde Jan Philipp Reemtsma entführt und erst nach Zahlung eines Lösegeldes wieder freigelassen. „Wir sind dann wohl die Angehörigen“ schildert die dramatischen Tage aus der Sicht des betroffenen Sohnes. Johann Scheerer (Jahrgang 1982) führt in „Unheimlich nah“ die Erzählung weiter und beschreibt die folgenden Jahre als tiefen Einschnitt für alle Betroffenen.

Nichts ist mehr wie zuvor: Objekt- und Personenschützer bewachen das Haus der Reemtsmas, ein Carport für die zahlreichen Dienstfahrzeuge muss errichtet werden, alle Familienmitglieder werden auf Schritt und Tritt begleitet. Die befremdliche Situation betrifft auch Johann Scheerer. Spontane Besuche von Freunden oder harmlose Ausflüge müssen abgesprochen werden, die Männer mit den Waffen sind plötzlich nicht mehr wegzudenken.

Scheerer schildert das seltsame Interesse des Heranwachsenden an diesen Männern, die so anders sind als die Erwachsenen, die er bisher kennenlernte. Es entstehen besondere Beziehungen, die aber nie zu Freundschaften werden. Johann ist fasziniert von den Sicherheitsleuten – und gleichzeitig erlebt er Beeinträchtigungen, von denen er seinen Freunden nicht berichten kann.

Unheimlich nah“ ist auch ein intensiver Coming-of-Age-Roman über eine Jugend im Hamburg der 90er- und Nullerjahre. Johann sucht seinen Weg in die Musikbranche, bekommt mit seiner Jugendband einen lukrativen Plattenvertrag und hofft auf die große Karriere. Der Weg ist jedoch steinig – und bei den Konzerten sind die Personenschützer natürlich auch vor Ort.

Selbstverständlich ist „Unheimlich nah“ brillant erzählt – viele Szenen sind so eindringlich geschildert, dass man sie nicht so schnell vergisst. Doch über allen Erfahrungen und Entwicklungen bleibt immer die Erinnerung an ein diabolisches Verbrechen, das die Lebensläufe vieler Unschuldiger für immer überschatten sollte.

Scheerer, Johann: Unheimlich nah (Piper Verlag) 22€.
Scheerer, Johann: Wir sind dann wohl die Angehörigen (Piper Verlag) 11€

Monika Helfer

Vati

Monika Helfer setzt mit „Vati“ ihre persönliche Familienerkundung fort, die sie im vergangenen Jahr mit der „Bagage“ begonnen hat. Und wieder ist ihr eine so einfühlsame wie eindrückliche literarische Skizze gelungen, die lange nachhallt.

Helfers Vater, aus einfachsten Verhältnissen stammend, zog in den Zweiten Weltkrieg und verlor dabei ein Bein. Im Lazarett lernte er seine künftige Frau kennen – diese Krankenschwester, die Monika Helfers Mutter werden sollte, verliebte sich in den gutaussehenden Invaliden und zog mit ihm nach Kriegsende ins Vorarlbergische, wo sie ein Kriegsversehrtenheim leiteten. Vati entwickelte in dieser Zeit ein ans Manische grenzendes Liebesverhältnis zur Heimbibliothek. Selbige wurde zwar von den Gästen selten frequentiert, konnte aber dank einer großzügigen Spende über einige bibliophile Kostbarkeiten verfügen. Die Liebe zu den ihm anvertrauten Büchern ging schließlich so weit, dass Vati einige Exemplare zweckentfremdete und zu sich nach Hause schaffte. Dieses Verhalten sollte ihn in ernste Schwierigkeiten bringen…

Helfers berührendes Vaterporträt fängt nicht nur die spezielle Nachkriegsstimmung in Österreich ein, sondern beschreibt ihre Elterngeneration als vom Krieg gezeichnete Angeschlagene, die trotz aller Widrigkeiten an einen Neuanfang glaubten. Doch die Vergangenheit holt jeden ein und die Beschädigungen durch Krieg und Armut meldeten sich zurück.

„Vati“ ist auch eine Geschichte über die Liebe zur Literatur und zu allem Schönen in einer kultur- und bücherlosen Umgebung. Helfers Vater durfte noch erleben, wie seine Tochter zur Schriftstellerin wurde – beglückt nahm er ihr Buch und ordnete es in seinem Bücherregal ein.

Dieser kurze, aber dichte Text behandelt eine Vielzahl von Themen, im Vordergrund steht aber doch das Porträt des Vaters als freundlicher Büchermensch. Monika Helfer hat „Vati“ ein wunderschönes literarisches Denkmal gesetzt.

Helfer, Monika: Vati (Hanser Literaturverlage) 20€