Thomas Wolfe

Eine Deutschlandreise

Corona macht’s möglich: Man entdeckt die Schönheiten des eigenen Landes und lässt Malediven und Seychellen links liegen. Deshalb erlaube ich es mir, die „Deutschlandreise“ von Thomas Wolfe als ein Buch der Saison zu bezeichnen.

Der amerikanische Romancier bereiste zwischen 1926 und 1936 insgesamt sechsmal Deutschland und Österreich. Seine Tagebuchnotizen, Briefe und Erzählungen aus dieser Zeit zeigen einen großen Bewunderer der deutschen Kultur, der sich diverse Museen und Galerien vornahm und anschließend die hiesige Restaurant- und Kneipenwelt austestete.

Wolfes Blick auf die Deutschen ist ein touristischer, politische Themen spielen hier zunächst keine Rolle. Dafür schildert er höchst anschaulich die damaligen Körperformen und Gesichtszüge in
Berlin, München und anderswo. Wolfe erlernt schnell einige
Grundbegriffe der fremden Sprache und lobt die Freundlichkeit
seiner Gesprächspartner.

Besonders eindrucksvoll verläuft ein Besuch des Oktoberfests im
Jahre 1928. Wolfe ist angezogen und zugleich abgestoßen von
den derben bayerischen Trinksitten – und gerät in eine veritable
Schlägerei mit drei (!) Raufbolden. Die Folgen: Platzwunden am Schädel, zerkratztes Gesicht, gebrochene Nase und Hutverlust.

Doch Wolfe lässt sich davon nicht abschrecken und bereist noch
mehrmals sein Lieblingsland. Erst spät erkennt der mittlerweile
zum Starautor Aufgestiegene die veränderten politischen
Verhältnisse nach 1933. In der 1936 entstandenen Erzählung
Nun will ich Ihnen was sagen“ wird eine Bahnfahrt im nun
nationalsozialistischen Deutschen Reich beschrieben. An der
Grenze zu Belgien kommt es zu einem Zwischenfall: Ein jüdischer
Reisender wird wegen eines angeblichen Fluchtversuchs verhaftet.

Wolfe schildert hier auf subtile Weile die neuen Gegebenheiten
des gleichgeschalteten Staates und wirft damit einen düsteren
Blick zurück auf sein einstiges Sehnsuchtsland.

Die „Deutschlandreise“ ist ein wichtiges Zeitdokument – und ein
großes Lesevergnügen zugleich.

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